Nova Friburgo, Nueva Helvecia oder Baradero: die Geschichte der Schweizer Auswanderung nach Südamerika Thema in Solothurn
Anlässlich des offiziellen Treffens zwischen Bundesrat Ignazio Cassis und dem brasilianischen Aussenminister Mauro Vieira am 30. April 2024 wurde auch ein Stück schweizerisch-brasilianische Geschichte beleuchtet. Mauro Vieira hat nämlich Schweizer Wurzeln: Seine Vorfahren wanderten zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Nova Friburgo aus. Einblick in die Geschichte und die Umstände der Schweizer Auswanderung nach Südamerika.
1839 malte der Schweizer Johann Jacob Steinmann eines der ersten Bilder von Nova Friburgo, auf dem die einfachen Häuser der Auswanderer zu sehen sind. © Freiburg, Privatarchiv
Im Juli 1819 wanderten Viktor und Josef Jecker mit ihrer Familie aus dem solothurnischen Erschwil in die künftige Kolonie Nova Friburgo in Brasilien aus. Mehr als 200 Jahre später besucht der brasilianische Aussenminister Mauro Vieira, ein Nachkomme dieser Erschwiler Familie, die Schweiz. Sein vollständiger Name verrät seine Schweizer Wurzeln: Mauro Luiz Iecker Vieira. Am 30. April 2024 traf er sich im Rahmen eines offiziellen Besuchs mit Bundesrat Ignazio Cassis in Solothurn. Dabei wurden ein Stück schweizerisch-brasilianische Geschichte und die 200-jährigen Verbindungen zwischen den beiden Ländern in Erinnerung gerufen und gefeiert.
Die Familie Jecker brach im Juli 1819 mit rund 2000 anderen Schweizerinnen und Schweizern nach Brasilien auf. Die meisten (rund 800) stammten aus Freiburg, andere aus den Kantonen Wallis, Jura, Luzern, Aargau und Solothurn. Was brachte diese Menschen dazu, sich auf der anderen Seite des Atlantiks in Südamerika niederzulassen? «Zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte in der Schweiz grosse Not. Auf einen Vulkanausbruch in Indonesien im Jahr 1815 folgten mehrere Jahre ohne Sommer», erklärt der Freiburger Historiker Martin Nicoulin, Autor des Buchs «La Genèse de Nova Friburgo».
Basel, Niederlande, Brasilien
Die Kantonsbehörden in der Schweiz suchten nach Lösungen. In Freiburg prüfte die Regierung die Auswanderung verarmter Freiburgerinnen und Freiburger nach Brasilien. Sie entsandte Sébastien-Nicolas Gachet aus Greyerz zu Verhandlungen mit Vertretern des portugiesischen Königs Johann VI., der sich in Rio im Exil befand. Im Mai 1818 genehmigte der König die Gründung der Kolonie Nova Friburgo per Dekret. Damit waren die Voraussetzungen für die Ansiedlung erfüllt. Die Auswanderungswilligen trafen sich in Basel, wo sie auf sieben Schiffe verteilt wurden. Nach einem Zwischenhalt in Dordrecht in den Niederlanden brachen sie zur Überquerung des Atlantiks auf. «Die Verhältnisse an Bord waren schwierig und eng. Die Überfahrt war von Stürmen und Krankheiten geprägt, so dass fast 400 der 2000 Schweizerinnen und Schweizer starben», sagt Martin Nicoulin.
Nach mehreren Monaten erreichten die Schweizerinnen und Schweizer Brasilien und machten in der Nähe von Rio de Janeiro Halt. Danach folgte eine weitere strapazenreiche Reise nach Nova Friburgo. Auf ihrem Weg durch das gebirgige Gelände mussten sie verschiedene kleine Pässe überqueren. Als sie endlich in der Schweizer Kolonie angekommen waren, bezogen sie einfache Reihenhäuser. Nova Friburgo wurde am 17. April 1820 offiziell zur Stadt erklärt. «Die Siedlerinnen und Siedler wollten in Nova Friburgo gewissermassen ein brasilianisches Greyerz schaffen. Allerdings war dies aufgrund des Klimas schwieriger als erwartet. Einige Siedler begannen zum Beispiel, Kaffee anzubauen», erzählt der Historiker, der mehrmals in Nova Friburgo war. «Es war sehr berührend, alle diese Nachfahren der Auswanderer mit typisch freiburgischen Namen wie Genoud, Robadey, Folly oder Macheret zu treffen.»
Auswanderung nach Argentinien
Nicht nur in Brasilien, sondern auch in anderen Ländern Südamerikas liessen sich im 19. Jahrhundert Schweizerinnen und Schweizer nieder, die wegen der Landwirtschafts- und Wirtschaftskrise in Europa emigrierten. Einige wanderten nach Uruguay aus, wo sie 1861 Nueva Helvecia gründeten, das 120 km von der Hauptstadt Montevideo entfernt ist, andere machten sich auf nach Paraguay, Chile oder Argentinien.
«Argentinien war jedoch am attraktivsten», sagt Martin Nicoulin. Zwischen 1850 und 1930 wanderten mehr als 40 000 Schweizer und Schweizerinnen nach Argentinien aus. Etwa 1000 liessen sich in Baradero in der Provinz Buenos Aires nieder. 1899 eröffnete die Schweizer Gesellschaft von Baradero eine «Casa Suiza». Gemäss dem Buch «Les Suisses dans le vaste monde», das 1931 von der Neuen Helvetischen Gesellschaft und der Auslandschweizerkommission herausgegeben wurde, glich das gesellschaftliche Leben in vielerlei Hinsicht demjenigen eines grossen Schweizer Dorfs. So wurden zum Beispiel Schützen- und Gesangsvereine gegründet. Der 1862 gegründete «Tiro Suizo» von San Carlos war der erste Schützenverein Argentiniens. Andere Schweizerinnen und Schweizer liessen sich in der Provinz Santa Fe nieder. Von 2007 bis 2011 war Hermes Binner, dessen Vorfahren aus dem Wallis stammen, Gouverneur dieser Provinz.