«Wir waren bereits stark in die Friedensprozesse in Kolumbien involviert»
Im Februar 2022 hat der Bundesrat die Amerikas Strategie 2022-2025 verabschiedet. Nach einem Jahr zieht Botschafter Mirko Giulietti, Chef der Abteilung Amerikas im EDA, eine erste Bilanz und blickt auf zwei Länder, in denen es für die Schweiz spezielle Entwicklungen gab: Die Leitung der Begleitgruppe bei den Friedensgesprächen in Kolumbien und die Umwandlung der Botschaft in Haiti in ein humanitäres Büro.
Direkte Kontakte auf höchster Ebene: Bundesrat Ignazio Cassis spricht mit US-Aussenminister Anthony Blinken am 13. Januar 2023 in Washington. © U.S. Department of State
Herr Giulietti, vor gut einem Jahr hat der Bundesrat die erste Amerikas Strategie verabschiedet. Wie weit erleichtert Ihnen als Chef der Abteilung Amerikas im EDA die Arbeit?
Die Strategie Amerikas fällt in die aussenpolitische «Strategie Kaskade» des Bundesrates und definiert geographische und thematische Prioritäten für die Region. Sie hilft uns sowohl hier in Bern als auch im Aussennetz, unsere Ressourcen gezielter zu steuern. Sie verleiht uns gegenüber unseren Partnern auch eine klarere Diskussionsbasis für unsere Konsultationen. Die meisten festgesetzten Ziele stellen in der Realität keine grossen Neuerungen dar, aber das Dokument hat uns erlaubt, sie mit der ganzen Bundesverwaltung zu diskutieren und zu systematisieren. Ich muss jedoch zugeben, dass wir in der Verwaltung noch besser lernen müssen, die geografischen Strategien mit den sektoriellen und den thematischen Strategien zu verknüpfen, damit wir alle mehr Nutzen aus unseren bilateralen Kontakten und Konsultationen ziehen können. Es braucht Zeit, aber wir sind auf dem richtigen Weg.
Wo funktioniert die Umsetzung der Ziele, die in der Strategie formuliert sind? Wo sind Ziele schon erreicht? Wo erweist sich die Umsetzung als besonders schwierig?
Wir haben in der Amerikas Abteilung gerade eine erste "Light"-Bewertung der Umsetzung der Ziele der Strategie durchgeführt. Im Allgemeinen können wir sagen, dass wir bei "klassischen" Themen Fortschritte machen, wie zum Beispiel bei den Verhandlungen über die Aktualisierung von Freihandelsabkommen oder Doppelbesteuerungsabkommen, beim verantwortungsbewussten Rückzug der DEZA aus der bilateralen Zusammenarbeit oder bei der Systematisierung und Aufnahme des Themas der Förderung und des Schutzes der Menschenrechte in unsere bilateralen Konsultationen. Im Bereich der wissenschaftlichen Zusammenarbeit in Lateinamerika müssen wir unsere Anstrengungen noch deutlicher machen. In unseren Konsultationen und Austauschen spüren wir ein grosses Interesse, aber wir haben es noch nicht geschafft, es effektiv umzusetzen. Die Strategie hilft uns gerade dabei, diese noch etwas im Schatten liegenden Bereiche sichtbar zu machen.
Mit den USA wurde im September 2022 der Dialog zur strategischen Partnerschaft durch eine Vereinbarung institutionalisiert. Was bedeutet das im Verhältnis zu den USA, die in der Strategie eine wichtige Rolle einnehmen?
Der Umgang der USA mit globalen und regionalen Herausforderungen hat entscheidenden Einfluss auf die Schweiz. Dementsprechend sind die USA ein globales Schwerpunktland der Schweizer Aussenpolitik und ein unumgänglicher Partner. Generell sind die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern sehr eng und die USA sind noch vor Deutschland unser wichtigster Handelspartner. Es gibt keinen diplomatischen Bereich, der sich unseren bilateralen Beziehungen entzieht: Handel, Sicherheit, Förderung von Demokratie und Menschenrechten, Kampf gegen den Klimawandel, Cybersicherheit und Digitalisierung, Steuern, wissenschaftliche Zusammenarbeit, Terrorismusbekämpfung, Schutz des geistigen Eigentums, um nur einige zu nennen.
Die enge Verflechtung der Beziehungen spiegelt sich daher auf natürliche Weise in unserer Amerikas-Strategie wider. Die jährliche Durchführung des Strategic Partnership Dialogues zwischen den USA und der Schweiz ermöglicht es uns, diese Vielfalt an Themen einmal jährlich auf Stufe Staatssekretärin strukturiert anzusprechen. Dies garantiert eine Kontinuität des Dialogs, und dieser Dialog ergänzt die Austausche der anderen Staatssekretariate, wie die Gemischte Wirtschaftskommission des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) oder den Austausch des Staatssekretariats für internationale Finanzfragen (SIF) mit den amerikanischen Steuerbehörden. Übrigens waren sowohl 2021 in Bern als auch 2022 in Washington das SECO und das SIF in der Schweizer Delegation vertreten. Das zeigt die Breite der dort diskutierten Themenbereiche.
Eine eigene Gruppe bilden in der Strategie die so genannten «Jaguar-Länder». Sie zeichnen sich aus durch eine dynamische Wirtschaftsentwicklung, allerdings bestehen auch Defizite bei der guten Regierungsführung und dem Schutz der Menschenrechte: Welche Wege kann der Bund hier beschreiten?
Die grosse Mehrheit der lateinamerikanischen Länder hat es geschafft, Jahrzehnte der Diktatur friedlich zu überwinden, die öffentlichen Räume für friedliche Auseinandersetzungen zu öffnen, die Institutionen zu stärken, den Akademien unabhängige Forschung zu ermöglichen, dem Privatsektor Innovationen zu ermöglichen und Arbeitsplätze zu schaffen. Dies ist ein Prozess, den die Bürgerinnen und Bürger Lateinamerikas stark gewollt, getragen und vorangetrieben haben. Sicherlich gibt es Defizite: Korruption ist ein weit verbreitetes Übel, das die gesamte Gesellschaft durchdringt und Rechte wie Gesundheit, Bildung oder Sicherheit berührt.
Was offenbar zu zunehmender Unzufriedenheit führt. Man hört immer wieder von Demonstrationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen in Ländern Lateinamerikas.
Bei einigen Regierungen sind autoritäre Tendenzen erkennbar, und in einigen Ländern bezahlen Menschenrechts- oder Umweltschützerinnen und -schützer ihr Engagement mit dem Leben. Man kommt nicht umhin zu sagen, dass Lateinamerika heute die gewalttätigste Region der Welt ist. Es muss aber auch betont werden, dass der Grossteil der Wahlprozesse der letzten Jahre friedlich verlaufen ist; die Verlierer haben ihre Niederlagen eingestanden und die Regierungen sind im Amt. Sie müssen sich aber manchmal mit Parlamenten auseinandersetzen, die ihnen feindlich gesinnt sind.
Wie kann der Bund hier einwirken?
Wie schon erwähnt, nimmt die Abteilung Amerikas die Thematik der Menschenrechte systematisch in unseren bilateralen Konsultationen auf. Parallel dazu führt auch die Abteilung Frieden und Menschenrechte des EDA bilaterale Menschenrechtsdialoge mit ausgewählten Staaten. Die Botschaften werden mit "Kleinkrediten" ausgestattet, um die Umsetzung von Projekten zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte zu finanzieren, die in völliger Transparenz mit den lokalen Behörden durchgeführt werden. Im Sinne der Politikkohärenz achten wir auch darauf, dass beispielsweise in der Wirtschaftsförderung menschenrechtliche Prinzipien respektiert werden.
Zudem arbeitet die Schweiz in multilateralen Foren eng mit vielen lateinamerikanischen Ländern zusammen: Schutz von Minderjährigen, Meinungsfreiheit, Menschenrechte und Drogenbekämpfung, Vergangenheitsbewältigung, Verhinderung von Folter usw. sind nur einige Beispiele für gemeinsame Themen. Diese multilaterale Zusammenarbeit ist ein klares Signal dafür, dass die lateinamerikanischen Regierungen daran interessiert sind, auch im Inland Fortschritte beim Schutz der individuellen Rechte zu erzielen.
Ein Jaguar-Land ist Kolumbien. Im November 2022 wurde die Schweiz von der dortigen Regierung und der Rebellengruppe ELN eingeladen worden, die Friedensgespräche zu begleiten. Was hat die Schweiz hier für Aufgaben?
Die Schweiz wurde gemeinsam mit Deutschland, Spanien und Schweden eingeladen, den Friedensprozess zu "begleiten". Diese Länder sind in der "Grupo de Países de Apoyo, Acompañamiento y Cooperación a la Mesa de Conversaciones" (GPAAC) zusammengeschlossen, in der die Schweiz derzeit den Vorsitz innehat. Neben der politischen und diplomatischen Unterstützung des Friedensprozesses sollen die vier Länder auch technische Unterstützung in bestimmten Themenbereichen leisten. Vor einigen Jahren, während der Friedensverhandlungen mit der FARC, hat die Schweiz zum Beispiel technische Expertise zu den Themen Waffenstillstand, Waffenlagerung und Aufarbeitung der Vergangenheit bereitgestellt.
Die Schweiz verfügt über eine grosse Expertise in der Friedenspolitik und bei Guten Diensten. Sie ist ausserdem in Kolumbien seit langem präsent und in vielen Bereichen aktiv. Was war aus Ihrer Sicht der Grund, weshalb die Schweiz für die Begleitgruppe der Friedensgespräche eingeladen wurde?
Sie erleichtern mir die Antwort, da diverse Elemente schon in Ihrer Frage enthalten sind. Die Schweiz verfügt über umfangreiche Erfahrungen auf globaler Ebene. In Kolumbien engagiert sich die Schweiz seit 20 Jahren friedenspolitisch und im Bereich der Menschenrechte. Wir waren bereits stark in die verschiedenen Friedensprozesse in Kolumbien involviert: in denjenigen mit der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), der 2016 zu einem Friedensabkommen führte; und schon vor seinem Unterbruch 2019 in den hier angesprochenen Prozess mit dem Ejercito de Liberación Nacional (ELN), der Ende 2022 wieder aufgenommen wurde. Erfahrung, Kenntnis des kolumbianischen Kontexts, langfristiges Engagement, bilaterale Programme zur Unterstützung der lokalen inklusiven Wirtschaft, aber auch Unterstützung bei der Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 - all diese Faktoren ergänzen sich und machen die Schweiz zu einer glaubwürdigen und engagierten Partnerin.
Wie muss man sich die Arbeit der Schweiz in der Begleitgruppe vorstellen?
Derzeit hat die Schweiz, wie bereits erwähnt, die Ehre und die Aufgabe, den Vorsitz der Vier-Länder-Gruppe zu führen. Die Verhandlungen zwischen der Regierung und dem ELN stehen noch am Anfang. Aktuell sind die Delegationen dabei, sich auf eine Verhandlungsagenda zu einigen, einen Zeitplan für ihre Arbeit festzulegen und Ziele zu definieren, z.B. bezüglich humanitären Massnahmen für die vom Konflikt betroffene Bevölkerung, Waffenstillstandsfragen und Einbezug der Bevölkerung in die Verhandlungen. Das definitive Mandat der Begleitstaaten wird erst in diesen Wochen in Austausch mit den Parteien festgelegt. Grundsätzlich bietet die GPAAC politische und diplomatische Unterstützung für den Friedensprozess. Des Weiteren bieten die Begleitländer den Parteien auf deren Anfrage thematische Expertise an. In dieser Phase geht es darum, die "praktischen" Bedürfnisse der Parteien zu verstehen - das können z.B. Verhandlungsseminare sein -, und andererseits zu eruieren, welches begleitende Land über welches gefragte Fachwissen verfügt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir uns noch in einer explorativen Phase befinden, in der es darum geht, Bedürfnisse zu definieren.
Am 17. März 2023 hat der Bundesrat der Schweizer Botschafterin in Santo Domingo die Seitenakkreditierung für Haiti verliehen. Was bedeutet das?
Die Botschaft in Haiti wird - wie vom Bundesrat empfohlen und von den Aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments gutgeheissen - in ein humanitäres Büro umgewandelt. Es handelt sich aber nicht etwa um einen Rückzug der Schweiz. Das möchte ich hier ausdrücklich betonen! Die Schweiz erhält ihre Präsenz in Haiti aufrecht und engagiert sich weiterhin für die Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung.
Der Hintergrund ist, dass sich die politische, sicherheits- und humanitäre Lage in Haiti in den letzten Jahren verschlechtert hat. Dies hat zu einer Änderung der Prioritäten unseres Handelns in diesem Land geführt. Die Aktivitäten der klassischen Diplomatie sind seit einigen Jahren aufgrund der sehr schwierigen politischen Gegebenheiten praktisch eingefroren. Daher war es notwendig, die Aktivitäten neu auszurichten, um den dringendsten Bedürfnissen des Landes gerecht zu werden.
Das bedeutet konkret?
Die Botschaft wird in ein humanitäres Büro umgewandelt. Unsere Botschafterin in Santo Domingo (Dominikanische Republik) ist neu bei den Behörden in Port-au-Prince akkreditiert. Schon seit Jahren werden die "haitianischen" konsularischen Angelegenheiten von der Dominikanischen Republik aus bearbeitet; unsere Kollegen/Innen haben also bereits langjährige Erfahrung und die Kontakte zu den haitianischen Behörden sind gut etabliert. Zwar wird die Botschafterin in Santo Domingo nicht vor Ort sein und muss regelmässig nach Port-au-Prince reisen, was nicht immer einfach sein wird. Die Distanzen sind aber kurz und Hin- und Rückreisen sind am selben Tag im Prinzip machbar.
Haiti: Botschaft wird in ein humanitäres Büro umgewandelt
Die Schweiz bleibt weiterhin in Haiti präsent, um Programme und Projekte im Bereich der humanitären Hilfe umzusetzen. Ihre Arbeit stützt sich auf ihre langjährige Erfahrung und die enge Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren. Ab 2024 wird sich das Engagement der Schweiz stärker auf die humanitären Bedürfnisse und die Stärkung der Resilienz ausrichten.
Die Aktivitäten der Schweiz konzentrieren sich auf die folgenden Bereiche:
- Schutz der Zivilbevölkerung
- Katastrophenvorsorge und Wiederaufbau
- Trinkwasser- und Sanitärversorgung sowie
- Ernährungssicherheit.
Die Amerikas Strategie, die der Bundesrat am 16. Februar 2022 verabschiedet hat, sieht als eine der Massnahmen die Umwandlung der Botschaft in der Republik Haiti in ein humanitäres Büro vor.
Der Bundesrat hat dieser Umwandlung am 25. Mai 2022 unter Vorbehalt der Zustimmung durch die Aussenpolitischen Kommissionen des Nationalrats (APK-N) und des Ständerats (APK-S) zugestimmt. Die beiden Kommissionen wurden im Juni 2022 (APK-N) resp. August 2022 (APK-S) konsultiert und haben sich für das Vorhaben ausgesprochen.
Beide Aussenpolitische Kommissionen unterstrichen, dass die Schweiz weiterhin eine Präsenz in Haiti aufrechterhalten soll. Dies aufgrund der sich verschlechternden Lebensbedingungen der Bevölkerung und zahlreichen humanitären Herausforderungen. Die anhaltende Präsenz erlaubt es auch künftig, schnell und wirksam auf Krisen zu reagieren.
Das EDA setzt nun die Umwandlung per Frühling 2023 um. Am 17. März 2023 hat der Bundesrat die Seitenakkreditierung der Schweizer Botschafterin in Santo Domingo (Dominikanische Republik), Rita Hämmerli-Weschke, für die Republik Haiti genehmigt. Mit Übergabe des Beglaubigungsschreibens in Port-au-Prince wird sie im diplomatischen Bereich für Haiti zuständig sein. Die konsularischen Aktivitäten werden bereits seit 2011 durch das regionale Konsularzentrum in Santo Domingo abgedeckt.