«Das humanitäre Völkerrecht ist Teil der DNA der Schweiz»
Corinne Cicéron Bühler, Botschafterin und Direktorin der Direktion für Völkerrecht des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), leitet eine Podiumsdiskussion mit dem Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) zum Thema Humanitäres Völkerrecht. In einem Vorabinterview erklärt sie, wieso sich die Schweiz seit vielen Jahren für die Stärkung des humanitären Völkerrechts einsetzt.
Corinne Cicéron Bühler ist seit dem 9. Mai 2018 Direktorin der Direktion für Völkerrecht des EDA. © Keystone
Die Schweiz hat eine lange humanitäre Tradition; gehört die Förderung des humanitären Völkerrechts weltweit zu den Prioritäten der Aussenpolitik des Bundes?
Die Einhaltung, Stärkung und Förderung des humanitären Völkerrechts (HVR) gehören zu den aussenpolitischen Prioritäten der Schweiz. Bundesrat Ignazio Cassis hat dies im Vorwort zum freiwilligen Bericht über die Umsetzung des humanitären Völkerrechts durch die Schweiz, der vom Bundesrat im August verabschiedet wurde, betont. Die Aussenpolitische Strategie 2020-2023 unterstreicht, dass sich die Schweiz aktiv für eine bessere Einhaltung und für eine Stärkung des humanitären Völkerrechts einsetzt. Dies steht im Einklang mit einer langen Tradition unserer Aussenpolitik. Die erste Genfer Konvention von 1864 war bereits auf Initiative der Schweizer Regierung ausgearbeitet worden. Die Schweiz ist heute Depositar der vier Genfer Konventionen von 1949 und ihrer Zusatzprotokolle von 1977 und 2005. Diese bilden die Grundlagen des humanitären Völkerrechts.
Die Schweiz verurteilt kriegführende Parteien, die das humanitäre Völkerrecht nicht respektieren, auf das Schärfste. Ist dies mit ihrer Neutralität vereinbar?
Wie jeder Vertragsstaat der Genfer Konventionen ist die Schweiz verpflichtet, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren und dessen Einhaltung zu gewährleisten. Sie muss daher alles in ihrer Macht Stehende tun, um Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht durch Parteien in bewaffneten Konflikten zu verhindern und zu stoppen. Die Schweiz ruft deshalb regelmässig alle Parteien zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts auf und verurteilt Verstösse gegen dieses Recht, ungeachtet dessen, wer die Täter sind. Dabei ergreift sie keine Partei. Sie bekräftigt lediglich die Rechtsvorschriften, die für alle gelten. Dies steht nicht im Widerspruch zur Neutralität. Die Neutralität hindert uns in keiner Weise daran, uns aktiv für die Achtung und Förderung der schweizerischen Grundwerte einzusetzen. Neutralität darf nicht als Rechtfertigung für Untätigkeit oder ein Rückzug verstanden werden. Im Gegenteil: Um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten, hat die Schweiz ein wesentliches Interesse daran, sich aktiv für die Einhaltung des Völkerrechts, insbesondere des humanitären Völkerrechts, einzusetzen.
Anfang November organisierte das EDA ein virtuelles Treffen von 280 Regierungsexperten aus der ganzen Welt. Ist es daher von wesentlicher Bedeutung, dass ein solcher Austausch von bewährten Praktiken ausserhalb des diplomatischen Sphäre stattfindet?
In der Tat hat die Schweiz vom 2. bis 5. November 2020 ein solches virtuelles Treffen organisiert. Das Thema war der Schutz der medizinischen Aktivitäten in bewaffneten Konflikten. Wer könnte sich besser mit einem solchen Thema befassen als die Mitglieder der Verteidigungs- und Gesundheitsministerien? Aus diesem Grund hat die Schweizer Diplomatie die Teilnahme solcher Experten gefördert. Die Einladung stiess ihrerseits auf grosses Interesse. Mehr als 280 Experten aus etwa 100 Ländern haben sich registriert. Gemeinsam tauschten sie sich über die Herausforderungen aus, vor denen sie stehen, und darüber, wie sie diese bewältigen. Das Ergebnis: Dank ihres technischen Fachwissens haben die Experten eine Vielzahl von guten Praktiken identifiziert. Diese werden als Inspirationsquelle dienen, um die Umsetzung des humanitären Völkerrechts auf nationaler Ebene voranzutreiben.
Am 18. November wird eine Podiumsdiskussion organisiert. Es werden Vertreterinnen und Vertreter des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und zwei Parlamentarierinnen anwesend sein. Sie werden im Namen des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) teilnehmen. Abgesehen von den Herausforderungen und Themen, die diskutiert werden, zeigt dies zudem, dass die humanitäre Frage auch eine Auswirkung auf die schweizerische Innenpolitik hat?
Wie Bundesrat Ignazio Cassis hervorhob, sind Innen- und Aussenpolitik eng miteinander verschränkt. Die Schweizer Aussenpolitik basiert auf einem demokratischen Dialog mit den innerstaatlichen Akteuren. Wir haben ein Interesse daran, eine kohärente Politik auf nationaler und internationaler Ebene zu entwickeln. Die Politik des Bundesrates im Bereich des humanitären Völkerrechts spiegelt die innerstaatlichen Werte der Schweiz wider. Das humanitäre Völkerrecht ist Teil der DNA der Schweiz.
Neue Technologien werden von Tag zu Tag immer wichtiger. Welche Herausforderungen stellt die Digitalisierung für die Direktion für Völkerrecht (DV) und das EDA im Allgemeinen dar?
Technologische Fortschritte haben heutzutage neue Mittel und Methoden der Kriegsführung hervorgebracht. Denken Sie an kybernetische Mittel und die zunehmende Einbindung autonomer Komponenten in Waffensysteme. Für die Schweiz besteht kein Zweifel, dass das humanitäre Völkerrecht auf diese neuen Waffen und den Einsatz neuer Technologien in der Kriegsführung Anwendung findet. Die Frage ist, wie das humanitäre Völkerrecht in der Praxis auf diese neuen Technologien angewandt wird. Wie schützt das humanitäre Völkerrecht zum Beispiel die Website oder das elektronische Emblem des Roten Kreuzes? Was bedeutet es, im Cyberraum "die Waffen offen zu tragen"? Antworten auf diese Art von Fragen sind für eine richtige Umsetzung des humanitären Völkerrechts von wesentlicher Bedeutung. Die Schweiz trägt zur Klärung dieser Frage bei, indem sie sich aktiv an der Arbeit verschiedener Foren beteiligt. In der Gruppe der Regierungsexperten des Übereinkommens über bestimmte konventionelle Waffen (CCW) äussert sich die Schweiz zur Anwendung des humanitären Völkerrechts auf autonome tödliche Waffensysteme. Die Schweiz arbeitet auch eng mit dem IKRK zusammen, um die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten im digitalen Raum zu schützen. Die Schweiz befindet sich aufgrund der Anerkennung, die sie in Fragen des humanitären Völkerrechts auf internationaler Ebene geniesst, in einer guten Position, um diese Art von Massnahmen durchzuführen.