«Jeder Einsatz ist einzigartig und anders als die anderen»
Am 6. August 2020 ist ein Schweizer Expertenteam in Beirut eingetroffen. Dank ihres Fachwissens und ihrer Erfahrung können die Mitglieder des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe vor Ort rasch Hilfe leisten und ausloten, wo eine weitere Unterstützung der Schweiz Sinn macht. Koordiniert wird der Einsatz des Teams von der Humanitären Hilfe des Bundes (HH) in Bern. Silvio Flückiger, Stabschef und stellvertretender Leiter der HH, erläutert die Etappen von den ersten Informationen über eine Katastrophe bis zur Entsendung des Teams.
Mitglieder der Einsatzleitung der Humanitären Hilfe des Bundes sitzen an einem Tisch und besprechen den Einsatz in Beirut. © EDA
Silvio Flückiger, Sie haben gestern das Expertenteam nach Beirut geschickt. Haben Sie von dort schon Rückmeldungen erhalten?
Ja, wir haben mit dem Team gesprochen. Die Expertinnen und Experten sind direkt ins Krisenmanagementteam der Botschaft integriert. Das Botschaftsgebäude wurde bereits auf die Stabilität hin überprüft und die drei Baustatiker konnten grünes Licht geben. Heute nahm das Krisenmanagementteam deshalb seine Arbeit wieder in der Botschaft auf.
Nach welchen Kriterien wurden die Mitglieder des Expertenteams für diesen Einsatz ausgesucht?
In erste Linie müssen wir die Bedürfnisse vor Ort kennen. In diesem spezifischen Fall, bei dem es auch um die Unterstützung der Botschaft ging, haben wir bei der Vertretung nachgefragt, was sie von uns benötigt. Weil vor allem die Baustatik überprüft werden musste, haben wir drei entsprechende Experten entsandt. Sie prüften das Botschaftsgebäude und die Wohnungen der Mitarbeitenden. Ab heute Nachmittag stehen sie bereits den libanesischen Behörden zur Verfügung und werden öffentliche Gebäude untersuchen.
Aufgrund der Situation in Beirut haben wir ausserdem angeboten, einen Gefahrgutexperten und eine Psychologin ins Team aufzunehmen.
Mit welchem konkreten Auftrag sind die Expertinnen und Experten nach Beirut geflogen?
Erste Priorität war die Unterstützung der Botschaft vor Ort, damit das Krisenmanagementteam rasch wieder funktionsfähig ist. Zweite Priorität war eine erste Abklärungsarbeit, um festzulegen, wo eine humanitäre Aktion vor Ort Sinn macht. In der Analyse wurden der medizinische Bereich, Unterkunft und Bau als vorrangige Bereiche evaluiert. Das entspricht auch dem Hilfsgesuch der libanesischen Behörden. Gegenwärtig bereiten wir die Entsendung einer zweiten Staffel von Expertinnen und Experten vor, welche morgen nach Beirut fliegen soll.
Es handelt sich hier um Mitglieder des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe (SKH). Wer gehört diesem Korps an?
Das SKH ist unser operationeller Arm. Das bewährt sich in dieser Krise einmal mehr. Es handelt sich um ein Milizkorps, also um eine typisch schweizerische Lösung. Das Korps besteht aus elf Fachgruppen, darunter zum Beispiel die Bereiche Bau, Medizin, Sicherheit oder Information. Die Mitglieder arbeiten in ihren angestammten Berufen. Die Bauingenieure zum Beispiel, die jetzt nach Libanon geflogen sind, arbeiten im Privatsektor. Der Gefahrgutexperte unterrichtet an der ZHW in Zürich im chemischen Bereich, und die Psychologin ist selbständig tätig.
Können die SKH-Mitglieder von heute auf morgen nach Libanon reisen?
Wenn Korps-Mitglieder in einem Arbeitsverhältnis stehen, ist mit dem jeweiligen Arbeitgeber vereinbart, dass sie für Einsätze kurzfristig zur Verfügung gestellt werden können. Weil die SKH-Mitglieder regelmässig Kurse machen, sind sie auch mit Blick auf ihre Aufgaben immer einsatzfähig.
Wir prüfen unsererseits neben der fachlichen Ausrichtung für einen Einsatz, welche Sprachen nötig sind oder wer allenfalls schon einen Einsatz im Libanon hatte. Damit stellen wir sicher, dass die richtige Person, mit dem richtigen Profil und der richtigen Ausbildung am richtigen Ort zum Einsatz kommt.
Und die Mitglieder für den Einsatz in Beirut waren rasch gefunden?
Ja, die Expertinnen und Experten haben sich in kürzester Zeit zur Verfügung gestellt. Erschwert wurde der Vorgang allerdings durch die notwendigen COVID-Massnahmen. Wir mussten am Dienstag COVID-Tests durchführen, haben aber im Vorfeld schon mit der Universität Zürich eine Lösung gefunden, so dass die Testresultate am Dienstagabend vorlagen und das Expertenteam ohne weiteren Verzug nach Beirut fliegen konnte. Die Tests hat übrigens auch eine Ärztin aus dem Korps durchgeführt.
Sie sind der Leiter dieses Einsatzes. Welches sind Ihre Schritte von der Information über eine Katastrophe bis zum Abflug eines Expertenteams?
Die Humanitäre Hilfe des Bundes hat ein Rundum-Pikett, 24 Stunden am Tag. Das ist unser Pulsmesser. Dort wird die Lage in der Welt laufend beobachtet und geprüft. Wenn eine Information eintrifft - wie am Dienstag aus Beirut -, wird mit Manuel Bessler, dem Delegierten des Bundes für Humanitären Hilfe, abgeklärt, ob die Situation einen Einsatz auslösen könnte. Ist das der Fall, wird eine Einsatzleitung einberufen und die Krisenzelle zusammengesetzt. Im aktuellen Fall wurde ich als Einsatzleiter bestimmt.
Wie lief das am Dienstag ab?
Zunächst ging es darum, ein Bild von der Situation zu erhalten. Wir haben sofort Kontakt mit unserer Botschaft aufgenommen. Am Mittwoch hatten wir dann drei Treffen der Krisenzelle, denn der Informationsbedarf ist in solchen Situationen viel höher als das Informationsangebot. Haben wir ein einigermassen gesichertes Bild der Lage, werden Aufträge erteilt, um ein mögliches und möglichst konkretes Hilfspaket vorzubereiten. Deshalb sitzen in den Krisenzellen immer auch Fachexpertinnen und –experten am Tisch, im aktuellen Fall SKH-Mitglieder aus den Bereichen Bau und Medizin. Geleitet wird das Einsatzteam, das in Beirut ist, von einem Mitglied der Humanitären Hilfe des Bundes. Er kennt die Mechanismen an der Zentrale in Bern – das ist bei solchen Einsätzen auch ein wichtiger Aspekt!
Die Humanitäre Hilfe des Bundes führt immer wieder Einsätze durch. Ist der aktuelle Einsatz in Beirut für Sie also ein Routinefall?
Nein. Jeder Einsatz ist einzigartig und anders als die anderen. Wir haben aus unseren früheren Einsätzen natürlich Erfahrungswerte, die uns helfen, in einer unvollständigen Informationslage die richtigen Entscheide zu fällen. Aber gerade im aktuellen Fall ist aussergewöhnlich, dass auch die Schweizer Botschaft in Mitleidenschaft geraten ist und wir mit dem humanitärem Personal gleichzeitig die libanesische Bevölkerung und unsere Vertretung vor Ort unterstützen müssen.
Humanitäre Hilfe der Schweiz
Die Humanitäre Hilfe des Bundes setzt sich vor, während und nach Konflikten, Krisen und Naturkatastrophen für die Interessen von schutzbedürftigen Menschen ein. Dabei konzentriert sie sich auf folgende Bereiche: Wiederaufbau und Rehabilitation der betroffenen Gebiete, Katastrophenvorsorge, Schutz von verletzlichen Personen und Nothilfe. Die Humanitäre Hilfe gehört zur Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und ist Teil des eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA).