Lesbos: «Jetzt ist es an der Zeit, dass Akteure vor Ort unsere Projekte übernehmen»
Manuel Bessler, stellvertretender Direktor der DEZA, Delegierter für humanitäre Hilfe und Chef des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe, besuchte am 29. September 2020 das Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos. Er wollte sich nach dem verheerenden Brand vor zwanzig Tagen ein Bild von der Situation im Durchgangslager für Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten machen. Er traf sich auch mit anderen internationalen Akteuren, um über die weitere Hilfe der Schweiz zu sprechen. Die Schweiz beendet ihre Soforthilfeaktion und setzt ihr Engagement mit einer mittel- und langfristigen Hilfe fort. Live-Interview aus Lesbos.
Manuel Bessler (2.v.l.), Delegierter für humanitären Hilfe, beim Besuch mit Schweizer Experten und Spiros Habimama, dem stellvertretenden Lagerleiter, im Flüchtlingslager auf Lesbos. © EDA
Herr Bessler, Sie besuchen derzeit das neue Flüchtlingslager in Lesbos. Wie ist die Lage vor Ort?
Ich stehe hier mitten im neuen Lesbos Registration and Identification Centre, und ich sehe ein Lager, das sich gerade im Aufbau befindet. Es gibt zwar bereits viele Zelte, jedoch fehlt es in diesem kleinen Dorf noch an der nötigen Infrastruktur. Die Trinkwasserversorgung war von Anfang an ein grosses Problem. Hier konnten wir von der Humanitären Hilfe der Schweiz mit unserer Expertise eine wichtige Nische finden. Wir haben inzwischen acht Wasserversorgungsstellen aufgebaut. Sie versorgen die gesamte Lagerbevölkerung mit sauberem Trinkwasser.
Weitere grosse Herausforderungen sind Abwassermanagement und Entwässerung des Lagers. Ab Mitte Oktober kann es auf Lesbos oft tagelang regnen. Deshalb muss ein Ablaufsystem eingerichtet werden, damit sich dieses Lager nicht in einen grossen Sumpf verwandelt und alle Zelte unter Wasser stehen. Wir stehen derzeit mit verschiedenen Akteuren in Kontakt und stehen ihnen beratend zur Seite. Es ist klar, dass dieses Lager keine permanente Lösung ist, und das werde ich am 30. September 2020 auch den zuständigen Behörden in Athen gegenüber unterstreichen.
Welche Prioritäten hat die Schweiz bei ihrer Soforthilfe verfolgt?
Durch den Brand waren innerhalb weniger Stunden 12‘000 Menschen obdachlos. Sie hatten plötzlich keine Verpflegung, kein Dach über dem Kopf, keine sanitären Einrichtungen und kein sauberes Trinkwasser mehr. Es ging darum, den Leuten so schnell wie möglich zu helfen und menschenwürdige Lebensumstände zu schaffen. Das ist unser Kernmandat, dem wir gerecht werden wollten und mussten. In Zusammenarbeit mit den griechischen Behörden und anderen humanitären Akteuren vor Ort klärten wir erst einmal die Bedürfnisse ab. Es stellte sich sehr schnell heraus, dass die Versorgung mit sicherem Trinkwasser für die Hilfsorganisationen vor Ort und die griechischen Behörden eine grosse Herausforderung darstellte.
Und da wir innerhalb der Humanitären Hilfe im Trinkwasserbereich sehr grosse Kompetenzen und Fachwissen haben, war es eine logische Entscheidung, uns in diesem Bereich einzubringen. Ich bin zwar erst ein paar Stunden auf der Insel, jedoch habe ich bereits viele positive Stimmen über unseren Einsatz gehört. Ich denke, die Schweiz ist dieser Herausforderung gerecht geworden und konnte einen echten Mehrwert liefern.
Warum beendet die Schweiz nun die Soforthilfe?
Es ist jetzt an der Zeit, unsere Arbeit an die Agenturen und NGOs zu übergeben, die bereits seit geraumer Zeit auf Lesbos arbeiten. Die Insel ist seit fünf Jahren der Immigrationsproblematik ausgesetzt und inzwischen gibt es genügend Hilfsorganisationen vor Ort, die unsere Arbeit weiterführen können. Wir haben Soforthilfe geleistet, da wir darin spezialisiert sind. Wir waren schnell mit Kompetenz und Sachkenntnissen vor Ort und haben innerhalb von 72 Stunden ein Wassersystem aufgestellt, das nun die gesamte Lagerbevölkerung mit sauberem Trinkwasser versorgt. Wir haben das Projekt gestartet, und jetzt ist es an der Zeit, dass die Akteure vor Ort unser Projekt übernehmen und den Migrantinnen und Migrantinnen wenigstens mittelfristig zu einem Leben in würdigen Verhältnissen verhelfen.
In welcher Form wird die Schweiz die Unterstützung weiterführen?
Es ist wichtig, dass wir nicht einfach wieder sang- und klanglos verschwinden. Die Migrationskrise ist nichts Neues auf der Insel. Seit mehr als fünf Jahren ist Lesbos mit diesen riesigen Herausforderungen konfrontiert, und die Schweiz möchte nun einen nachhaltigen Beitrag leisten. Und das machen wir nicht nur mit Soforthilfe, sondern auch mit mittel- und längerfristiger Hilfe.
Wir stellen unseren Partnerorganisationen von der UNO wie auch NGOs sogenannte Secondments zur Verfügung. Das bedeutet, wir entsenden Experten für Unterkunft oder Wasser längerfristig nach Lesbos, um die Organisationen vor Ort sowie die griechischen Behörden mit ihrem Fachwissen zu unterstützen. Derzeit ist ein Wasseringenieur für das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF vor Ort tätig. Derzeit befinden wir uns in den letzten Vorbereitungen, um eine Bauingenieurin für die Lagerplanung an das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) zu entsenden. Wir wollen unsere Partner sowie auch die griechischen Behörden bei dieser gigantischen Herausforderung unterstützen, und deshalb wird die Schweiz auch nach ihrer Soforthilfeaktion auf Lesbos engagiert bleiben.