Sehr geehrte Damen und Herren
An französischen Bahnübergängen hing früher ein Warnschild: «un train peut en cacher un autre». Damit wurde davor gewarnt, dass hinter einer sichtbaren Gefahr noch eine zweite – eine unsichtbare – Gefahr lauert. Das Schild ist heute mehrheitlich verschwunden. Schade eigentlich.
- Schade, weil genau hier die grosse Herausforderung unserer Zeit liegt: eine Krise kommt selten allein. Meistens sehen wir uns mit mehreren Krisen gleichzeitig konfrontiert. In ihrer Art und Ausprägung zwar unterschiedlich, aber in sich verkeilt.
- Schade auch, weil das Entfernen von Schildern als Entwarnung verstanden werden kann.
- Und schade, weil die Fixierung auf nur eine Herausforderung dazu führt, dass man von Silos voller Spezialisten aus denkt, und nicht von Teams mit komplementären Kompetenzen.
Was es braucht, ist das Zusammenspiel von Fähigkeiten. Deshalb habe ich «Together different» als Tagungsmotto gewählt. Oder um es in einem Wort meiner Muttersprache zu sagen: insieme.
1. Die Haltung der Schweiz im aktuellen Krieg
Nicht das Nacheinander von Problemen ist der höchste Schwierigkeitsgrad im Krisenmanagement, sondern das Miteinander von Problemen. Die Covid-19-Pandemie ist noch nicht vorbei, die Krisen in Afghanistan, Libyen oder Syrien dauern an, die Natur revoltiert, die Temperatur steigt und nun bringt der Krieg gegen die Ukraine die nächste Katastrophe. Tausende Menschen wurden bereits getötet, Millionen Menschen sind auf der Flucht. Sicher, der Krieg trifft die Ukraine am härtesten. Aber er trifft auch ihre Nachbarländer, das russische Volk und die westliche Zivilisation insgesamt. Städte sind zerstört, Kulturen zurückgeworfen, Beziehungen zerschlagen. Und wenn die Kornkammern versiegen, droht eine Ernährungskrise – insbesondere in den ärmsten Ländern.
Meine Damen und Herren. Der Krieg ist zurück in Europa. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wurde ein souveränes demokratisches Land angegriffen. Völkerrecht wurde verletzt. Das Gewaltverbot mit Füssen getreten. Geopolitik, Einflusssphären, Grossmächte, militärische Aufrüstung – irgendwie kommen einem diese Begriffe ziemlich bekannt vor. Plötzlich dominiert wieder die Politik der Macht. Die Macht der Politik wankt. Hat die Welt wirklich nichts aus der Vergangenheit gelernt? Zum Glück sehen wir auch starke Gegenkräfte. Menschen, die einstehen für Freiheit, für die Grundrechte, für das Völkerrecht. In eindrücklicher Geschlossenheit stellt sich der Westen gegen den Angriffskrieg und setzt sich ein für Demokratie und Selbstbestimmung. Auch die Schweiz als neutraler Kleinstaat mitten in Europa hat sich auf die Seite der Unabhängigkeit und gegen die Unterdrückung gestellt.
2. Neutralität: eine Verpflichtung und eine Chance
Ich höre oft die Behauptung – und manchmal ist es auch ein Vorwurf –, die Schweiz habe ihre Neutralität aufgegeben, weil wir die Sanktionen der EU übernommen haben. Weil wir Stellung bezogen haben. Weil wir nicht schweigen und tatenlos zusehen. Aber ist neutral, wer einen Aggressor durch Nichtstun begünstigt?
Es gibt einen Unterschied zwischen dem Neutralitätsrecht und der Neutralitätspolitik.
- Das Neutralitätsrecht ist sakrosankt: Wir mischen uns nicht als Kriegspartei militärisch in Konflikte ein. Weder mit Truppen noch mit Waffen.
- Die Neutralitätspolitik hingegen lässt bewusst einen Spielraum. Einen Spielraum, der es uns erlaubt, auf der Seite des Rechts und gegen das Unrecht zu stehen. Der es uns erlaubt, Aggressoren zu verurteilen und Opfer nicht allein zu lassen. Die Neutralitätspolitik ist ein flexibles Instrument unserer Sicherheits- und Aussenpolitik. Es berücksichtigt nicht einseitig unsere eigenen Interessen – es berücksichtigt auch das Interesse jener, die unsere Neutralität akzeptieren. Wenn es um die Verteidigung des Völkerrechts geht, muss auf die Schweiz Verlass sein.
Unsere humanitäre Tradition, die Betreuung von Flüchtlingsfamilien hier und vor Ort, die Erfahrung als Konfliktlöser, der Einsatz von Friedensspezialisten oder die Rolle als Gastgeber von internationalen Konferenzen sind dadurch nicht tangiert. Die Geschichte lehrt uns, dass es irgendwann eine Zeit nach dem Krieg geben wird. Eine Zeit, in der die Waffen wieder schweigen. Auf dieses Ziel arbeiten wir hin – bereit, um mit unserer Diplomatie und unseren Guten Diensten den Weg zum Frieden zu ebnen. Wir werden uns in aller Bescheidenheit eines Kleinstaates aktiv dafür einsetzen, damit die Kriegsparteien und die Akteure der Weltsicherheitspolitik einen Ausweg aus diesem schrecklichen Krieg finden.
3. Dürre. Hunger. Flucht.
So schrecklich dieser Krieg ist, so sehr er uns aufwühlt: Wir dürfen andere Krisen nicht aus den Augen verlieren. Es reicht nicht, die Probleme dieser Welt nacheinander zu lösen. Sie finden gleichzeitig statt. Und langfristig bedrohen einige von ihnen unsere Existenzgrundlagen schlechthin. So hat der Weltklimarat am 28. Februar 2022 beispielsweise bestätigt: Der Klimawandel ist die grösste Herausforderung, der sich die Menschheit stellen muss. Fast die Hälfte der bald acht Milliarden Menschen lebt heute in Regionen, die stark gefährdet sind. Vor allem in West-, Zentral- und Ostafrika sowie in Südasien und Lateinamerika. Was der Klimawandel für diese Menschen bedeutet, habe ich als Arzt und Bundesrat mehrfach vor Ort erlebt. Im Frühling 2018 in der Mongolei: dort sah ich die Folgen von Dürre und Mangelernährung. Vor wenigen Wochen besuchte ich den Niger, ein armes Land im Sahel, das von der Migration geprägt ist. Das Land bietet trotz grosser Armut Tausenden von Vertriebenen Nahrung, Unterkunft und Schutz.
Das Problem dabei? Nur Nähe schafft emotionale Betroffenheit. Distanz hingegen lässt selbst schlimmste Katastrophen verblassen. So machte auf meiner Reise in den Niger nicht das Leid der Menschen vor Ort Schlagzeilen, sondern die Tatsache, dass meine Schuhe staubig waren… Aber der Schein trügt. Distanz ist kein Freipass. Die Wirklichkeit kennt keine Grenzen. Auch wir in Europa spüren den Klimawandel bereits. Denken wir an die Flutkatastrophe im vergangenen Jahr: Belgien, die Niederlande, Österreich und Teile Deutschlands waren ganz besonders betroffen. Und auch unser Land wird nicht verschont: Waldbrände, Überschwemmungen, Erdrutsche, Gletscherschwund…
4. Die grosse Verkettung: Klimawandel als Auslöser von Konflikten
Die Folgen des Klimawandels, sie sind bereits heute allgegenwärtig. Überall auf der Welt werden natürliche Kreisläufe gestört. Steigende Temperaturen zerstören Lebensgrundlagen, sie führen zu Konflikten um Wasser und Nahrung. Schon heute schaffen Kriege für das blaue Gold mehr Opfer als Kriege für das schwarze Gold. Menschen werden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Ganze Regionen werden destabilisiert. Dass Sicherheit und Wohlstand in Europa keine Selbstverständlichkeit sind, das erleben wir aktuell aufs Neue.
Meine Damen und Herren. Mir ist bewusst, dass es bei so vielen Bäumen schwerfällt, den Wald zu sehen. Wie sollen wir dieser Fülle an Herausforderungen begegnen? Mit einer Fülle von Ideen! In dem wir uns austauschen, unsere Silos verlassen und «out of the box» denken. Schon allein die DEZA bietet eine Fülle der besten Köpfe der Entwicklungszusammenarbeit. Das ist super. Aber es reicht noch nicht. Weil sich Konflikte ineinander verkeilen ist neben Fachexpertise je länger je mehr verbindende Kompetenz gefragt. Solche Lösungen brauchen Wissenschaftlerinnen, Diplomatinnen, Finanzexperten, Energiefachleute, NGO und viele mehr. Es braucht die Politik genauso wie die Wissenschaft, die Wirtschaft und den Privatsektor.
5. «Work in progress» statt pfannenfertiger Lösungen
Genau darum sind wir heute hier. Sie sind Expertinnen und Experten in Ihren Bereichen. Sie alle haben Ideen und Ansätze, um einzelne Aspekte des Klimawandels, der Migration oder der Friedensbildung anzugehen. Aber auch mit der besten isolierten Idee können wir den Klimawandel nicht stoppen. Was wir entwickeln müssen, ist ein «work in progress» – die kontinuierliche Bereitschaft, Ideen aus unterschiedlichen Bereichen zusammenzuführen, unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und im Antizipieren chaostheoretischer Verkettungen.
Der Insieme-Ansatz erfordert für viele ein Umdenken. Denn er erfordert, bekanntes Terrain zu verlassen und sich Neuem zu stellen. Genau deshalb ist dieses «together different» so wichtig. Zu akzeptieren, dass mein Gegenüber eine andere Meinung hat, oder sogar recht hat, oder zumindest ein bisschen recht – das ist nicht immer einfach. Aber der Fortschritt der Menschheit basiert genau auf diesem Austausch von Wissen. Neuland findet nur, wer ausbricht. Dazu brauchen wir eine gelebte Meinungsvielfalt: Die Freiheit, die eigene Meinung äussern zu können – ohne Angst vor Repressionen. Und umso besser, wenn die andere Meinung eine Herausforderung ist, «out of the box», statt Mainstream. Der gemeinsame Versuch und Irrtum ist der Motor der Innovation. Die Schweiz mit ihrer gelebten direkten Demokratie, ihren verschiedenen Sprachen, Religionen und Kulturen lebt diesen Austausch jeden Tag.
6. Zusammen neue Lösungen kreieren
Es freut mich daher, heute als Bundespräsident die Ehre zu haben, im Rahmen dieses IC-Forums diese Vielfalt zu fördern und alle relevanten Interessengruppen zusammenzubringen – sei es physisch oder virtuell aus der ganzen Welt. Ein Aufwand, der sich lohnt. Um es in den Worten eines meiner Vorgänger, Kaspar Villiger, zu sagen: «Mit unserem beschränkten Wissen und Können allein wären wir als Individuen niemals in der Lage, in Gesundheit und Wohlstand zu überleben. Erst die Kooperation innerhalb der Gesellschaft ermöglicht es uns, auch das Wissen und Können anderer Menschen und mannigfacher Organisationen zu nutzen».
Genau das erwarte ich vom IC-Forum. Dass wir unser Wissen verknüpfen, unsere Ideen einem kollektiven Stress-Test unterziehen und so in Workshops und im Plenum gemeinsam neue Lösungen ausarbeiten: together different.
Let’s get together, let’s come up with different solutions: In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein spannendes und herausforderndes IC-Forum 2022. Gute Arbeit!