Globaler Wettbewerb
Genf ist allerdings bei weitem nicht die einzige Anwärterin auf die (künftige) Position als Zentrum der globalen Gouvernanz. New York, Paris, Kopenhagen oder Istanbul – letzteres wurde als Austragungsort des ersten humanitären Weltgipfels 2016 ausgewählt – sind ernstzunehmende Konkurrentinnen.
Angesichts dieser Feststellung haben die Behörden des Kantons Genf und des Bundes im Juni 2013 einen gemeinsamen Bericht über das internationale Genf und dessen Zukunft veröffentlicht («La Genève internationale et son avenir»). Die prospektive Studie gelangt u. a. zum Schluss, dass die Stärkung des internationalen Genfs (oder einer internationalen Schweiz dank dem internationalen Genf) eine doppelte Strategie voraussetzt: «Wir müssen uns ein Handlungsfeld «Hardware» und ein Handlungsfeld «Software» vorstellen», so Botschafter Fasel. «Das bedeutet erstens, dass wir unsere Gäste rundum umsorgen und ihnen noch mehr und noch attraktivere materielle Leistungen anbieten; zweitens, dass wir die Marke Genf oder Schweiz bekannt machen müssen, d. h. wir müssen dafür sorgen, dass unser Land zur Schaffung von entscheidenden Inhalten beiträgt.»
Produktive Synergien
Die Förderung der «humanitären Software» Genfs ist innerhalb und ausserhalb der Schweiz denkbar. Einerseits setzt sich die Schweiz dafür ein, Plattformen für den Informations- und Erfahrungsaustausch zu entwickeln, um den Dialog unter den in Genf niedergelassenen Institutionen zu fördern. Von der «Geneva Peace Building Platform» bis zur jüngst gegründeten «Geneva Internet Platform» waren mehrere Initiativen bereits von Erfolg gekrönt.
Als vielversprechender Ansatz gelten die laufenden Gespräche über sexuelle Gewalt in Konfliktsituationen. Dazu besteht ein grosses Potenzial an Synergien, wie Doris Schopper erklärt: Sie ist Leiterin des «Centre for Education and Research in Humanitarian Action» (CERAH), ein gemeinsames Zentrum der Universität Genf und des Instituts für internationale Beziehungen und Entwicklung. «Das Thema ist in aller Munde, aber niemand weiss, wie man vorgehen soll. In Partnerschaft mit dem IKRK, Handicap International, Médecins Sans Frontières und dem UNHCR entwickeln wir derzeit ein Studienprogramm über geschlechtsspezifische Gewalt. Es soll den Entscheidungsträgern in internationalen Organisationen helfen, auf fundierte Erkenntnisse gestützte Aktionspläne zu erstellen.»
Überall einen Fuss in der Tür
Andererseits bemüht sich die Schweiz, ihre Anwaltschaft in alle Länder zu tragen. Die diplomatischen Vertretungen der Schweiz engagieren sich mit ihren Erfahrungen vor Ort, und die DEZA entsendet Experten zur Teilnahme an strategischen multilateralen Diskussionen. «Die Schweiz muss überall einen Fuss in die Tür bekommen, auch wenn die Gespräche anderswo stattfinden», betont Botschafter Fasel. Dabei hilft uns die Geschichte: «Die humanitäre Haltung, die seit 150 Jahren formell mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft verbunden wird, und ihre Neutralität verleihen der Stimme der Schweiz grosse Glaubwürdigkeit», erklärt Isabelle Barras.
Arabischer Frühling, Urbanisierung, Justiz in Transitionsprozessen, Klimawandel... An Gesprächsthemen mangelt es nicht, und die Zivilgesellschaft hegt grosse Erwartungen. «In einem sich wandelnden internationalen Kontext, in dem neue globale und lokale Akteure auf den Plan treten, muss die Schweiz die Fähigkeit verkörpern, kohärente Aktionslinien zu entwickeln», so Nan Buzard, Leiterin des «International Council of Voluntary Agencies». Dieses Netzwerk mit Sitz in Genf vertritt über 80 NGO aus der ganzen Welt. «Die unterschiedlichen Ideen in Genf zusammentragen und anschliessend neue Strategien für das humanitäre Engagement exportieren – darin besteht die Herausforderung. Ich sehe dies als eine Chance und eine grosse Verantwortung für die heutige Schweiz ...»