24.05.2022

Address by the President of the Swiss Confederation and Head of the Federal Department of Foreign Affairs FDFA, Ignazio Cassis - check against delivery

Speaker: Head of Department, Ignazio Cassis

Geschätzte Damen und Herren

Als ich gestern Vormittag hier ans WEF anreiste, stellte ich mir die Frage, was seit meinem letzten Besuch geschehen ist. Die Ereignisse der letzten beiden Jahre übersteigen alles, was wir uns vorstellen konnten.

Im Januar 2020 machte uns unter anderem ein Virus in Wuhan Sorgen. Niemand konnte sich vorstellen, dass aus dieser Mikrobe plötzlich eine weltweite Pandemie entstehen könnte, die Millionen von Menschenleben kosten und unser Leben zwei Jahre auf den Kopf stellen würde.

Und als wäre das nicht genug, folgt eine Krise auf die nächste. Am 23. Februar hat Bundesrat den schrittweisen Ausstieg aus den Corona-Massnahmen beschlossen.

Eigentlich ein Tag der Freude! Aber schon am nächsten Tag, beginnt mit Russland mit ihrem inakzeptablen Angriff auf die Ukraine einen Krieg in Europa. Damit ging eine lange Zeit des Friedens in Europa schlagartig zu Ende.

Vieles war sofort in Frage gestellt:
-    Wir glaubten, dass wir in Europa Wege und Mechanismen gefunden hätten, unsere Konflikte friedlich und ohne Krieg beilegen zu können.
-    Plötzlich mussten (oder müssen) wir uns aber der Realität stellen, dass diese Mechanismen versagt haben.
-    Frieden ist weder in Europa – noch sonst wo in der Welt – gottgegeben und selbstreproduzierend.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat uns aber auch deshalb derart schockiert, weil es sich um einen Angriff auf unsere Werte wie Demokratie, Rechtsstaat und Selbstbestimmung handelt.
-    Demokratie muss aber stärker sein als Gewaltherrschaft.
-    Recht muss stärker sein als Macht und Gewalt.
-    Selbstbestimmung muss stärker sein als Unterdrückung.

Angesichts dieser brutalen Verletzung des Völkerrechts – insbesondere des humanitären Völkerrechts – hat die Schweiz den Krieg scharf verurteilt und die Sanktionen der EU übernommen.
-    Gegenüber einer solchen Tat gibt es keine Neutralität!
-    Nichtstun hätte dem Aggressor in die Hände gespielt.

Der Bundesrat hat zudem sofort reagiert und der leidenden Bevölkerung Hilfe zukommen lassen. Insgesamt hat er bisher über 100 Millionen Franken gesprochen. Er hat den Schutzstatus S aktiviert und damit die unkomplizierte Aufnahme von Flüchtlingen ermöglicht.
Aber auch Sie alle, also die Schweizer Bevölkerung, hat sich solidarisch gezeigt. Allein die Glückskette hat insgesamt über 120 Millionen Franken für Kriegsbetroffene gesammelt. Nicht zu vergessen alle privaten Initiativen und die über 50'000 privaten Betten, die für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt wurden. Das macht mich stolz! Und es ist der Beweis: Neutralität heisst nicht Gleichgültigkeit!

Ich habe das gestern in meiner Eröffnungsrede «kooperative Neutralität» genannt.
Was meine ich damit:
Unsere Neutralität ist kein starres Gebilde. Sondern muss sich den Realitäten anpassen. Neutralität hat keinen Selbstzweck.
Der Krieg in der Ukraine hat uns gezeigt, dass wir unsere Ziele nur gemeinsam mit anderen erreichen können.
-    Wir stehen zusammen, wenn es um die Verteidigung unserer Werte geht.
-    Wir stehen zusammen, wenn es um den Erhalt und die Wiederherstellung des Friedens geht.
-    Und wir kooperieren, um gemeinsam mit anderen Ländern, Regeln zu gestalten, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen.

Die Schweiz engagiert sich damit auf allen möglichen Ebenen für den Erhalt und die Wiederherstellung des Friedens. Mit Kooperation, mit guten Diensten oder als Plattform.

Geschätzte Damen und Herren
Anfang Juli organisieren wir gemeinsam mit der Ukraine die «Ukraine Recovery Conference». Heute Abend treffe ich hier in Davos den Aussenminister der Ukraine, um den Inhalt dieser Konferenz zu konkretisieren. Sie soll sich mit dem Prozess befassen, wie die Ukraine wiederaufgebaut werden kann.

Es ist ein Puzzleteil zurück zu einem friedlichen Europa – und die Schweiz ist Teil davon.


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Last update 29.01.2022

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